Das Ehrenamt in Passau als fundamentale Stütze gelungener Integration

Interview mit Tobias Schmidt im Sommer 2020 – von Valerie

Integration ist fester Bestandteil der öffentlichen Debatte und unseres alltäglichen Lebens. Sie erfordert viel kommunikative Arbeit und viel Engagement. Da wir durch Corona nicht unserer üblichen Arbeit nachgehen konnten, haben wir uns im Sommer entschieden mehr über Integration in Passau erfahren zu wollen. Wer sind wir? Wir sind das politische Bildungsteam der Hochschulgruppe Chancen gestalten (kurz Changes). Seit fünf Jahren beschäftigt sich Changes mit 1:1 Mentoring zwischen Geflüchteten in der Berufsausbildung und Studierenden. Unser Ziel ist es, dass unsere Mentorinnen und Mentoren geflüchtete Menschen in Deutschland im alltäglichen Leben unterstützen, wobei wir natürlich stets hoffen, dass neben der Unterstützung beim Lernen und bei Behördengängen auch in erster Linie Freundschaften entstehen. Darüber hinaus haben wir im Sommer diesen Jahres einen Lauftreff für geflüchtete Frauen ins Leben gerufen (Passauer Women Run). Wir als Team politische Bildung organisieren normalerweise Events und sind selbst bei Veranstaltungen präsent. Da sich sämtliche Veranstaltungen dieses Jahr als schwierig gestalten, mussten natürlich auch wir in unserer Arbeit umdenken. Dennoch wollten wir unser Hauptthema der Integration weiter aufgreifen und dabei den Blickwinkel etwas öffnen, um herauszufinden wer sich eigentlich noch um Integration von Geflüchteten in Passau kümmert. Wer ist da ein besserer Ansprechpartner als Tobias Schmidt, Integrationslotse der Stadt Passau? Mit ihm haben wir am 13. Juli gesprochen, um mehr über seine Arbeit zu erfahren, ob Passau mit seinem großen Angebot an Ehrenamt wirklich erfolgreich und nachhaltig Geflüchtete integriert und was es allgemein für gelungene Integration braucht. Tobias Schmidt ist einer von 86 Integrationslotsen in Bayern. Er unterstützt engagierte Bürgerinnen und Bürger. Dabei ist er ist dabei vor allem Ansprechpartner für ehrenamtlich Tätige, die in der Unterstützung von Menschen mit Fluchterfahrung arbeiten. Als Integrationslotse begleitet Herr Schmidt hauptsächlich Helferinnen und Helfer, ist Ansprechpartner, koordiniert Anfragen und gibt Auskunft. Tobias Schmidt beschreibt seine Lage als “glücklich”, da er mit mehr als 300 Ehrenamtlichen in gelegentlichen bisregelmäßigen Kontakt steht. Im Vergleich zu anderen Integrationslotsen schneidet er mit seinem Zuständigkeitsbereich Passau damit im guten Mittelfeld ab. In der Größenkategorie von Städten mit rund 50.000 Einwohnern ist diese Anzahl an freiwilligen Helfern eine gute Quote. Soziale Medien, wie beispielsweise Facebook, sind ebenfalls beliebte Plattformen um mehr Reichweite - Schmidt spricht hier von knapp 6.000 Lesern eines selbst verfassten Artikels - zu generieren. So können auch Personenkreise angesprochen werden, die sonst mit dem Thema Integration wenige Berührungspunkte haben.

Ehrenamtliches Engagement: Die Sprache als Grundlage der Integration

Schmidt führt aus, Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund hätten unterschiedliche Fertigkeiten, im sozialen Alltag Tritt zu fassen und bräuchten dabei bisweilen Unterstützung. Eine Ursache dafür sieht er darin, “dass der Freistaat Bayern Menschen im Asylverfahren weitestgehend Sprachkurse versagt”. Anstelle des Staates rückt das Ehrenamt und schließt diese Lücke. In Passau gibt es seit über 20 Jahren die Sprachkurse der evangelischen Studierendengemeinde (ESG), die das vom Staat geschaffene Loch füllen. Sprachkurse sind für geflüchtete Menschen als Sprungbrett in die Gesellschaft unabdingbar. Denn nimmt die Sprachbarriere ab, kann die Wohnungssuche allein erledigt werden und für behördliche schreiben ist kein Übersetzer mehr notwendig. Tobias Schmidt meint, dass so das Ankommen im Alltag erleichtert wird. Patenschaften, wie sie bei “Chancen Gestalten” vermittelt werden, helfen den Geflüchteten im Alltag Fuß zu fassen. So haben sie einen konkreten Ansprechpartner, der ihnen mit behördlichen Schreiben, dem Einkaufen, der Wohnungssuche und anderen alltäglichen Belangen helfen kann. Ist dieser auch überfragt, kann er im besten Fall bei seinem Netzwerk nachfragen und so die geflüchtete Person trotzdem unterstützen. Aber es geht um mehr als die Unterstützung: mit einer Patenschaft erhält der Geflüchtete Kontakt zur “Aufnahmegesellschaft”, er lernt einen Menschen aus einem anderen Umfeld kennen und findet (hoffentlich) auch einen Freund. Das ehrenamtliche Grundengagement in Passau existiert Berichten zufolge schon seit vielen Jahren: Bürgerinnen und Bürger des Landkreises Passau sammelten früher Geld, um Geflüchteten ein Ökonetz-Ticket zu kaufen, damit diese nach Passau fahren konnten, um dort notwendige Sprachkurse zu besuchen. “Denn wer früh beginnt, lernt hier auch den Alltag kennen, kommt in Gepflogenheiten hinein und tut sich dann im Moment, wo dann ein Aufenthaltstitel möglich wird, wo sich ein Verfahren positiv entwickelt, leichter mit dem Ankommen.” Zwar sieht Schmidt noch viel Bedarf, allerdings habe sich in dieser Richtung auch viel getan in den letzten Jahren. Er selbst unterstützt in seiner Funktion als Integrationslotse diese ehrenamtlichen Projekte, indem er Räume zur Verfügung stellt und Nachfrage und Angebot koordiniert.

 

Wo der Staat versagt und das Ehrenamt unersetzlich ist

Neben fehlenden staatlichen Angeboten von Sprachkursen für Geflüchtete kritisiert Schmidt am deutschen System, dass es allgemein zu wenig berufliche und menschliche Vorerfahrungen berücksichtigt. Die Konsequenz daraus sei, dass Menschen einen Verfall ihres sozialen Status erleben, den sie in ihren Herkunftsländern innehatten. Als Beispiel dafür nennt Schmidt unklare oder nicht funktionierende Anerkennung von Berufen aus den Herkunftsländern in Deutschland. Wenn man das einmal nachzuempfinden versucht, wird schnell klar, wie viel Frust und Stress dadurch entstehen kann: Eine Person widmet ihr ganzes Leben einem Beruf und erwirbt diverse Qualifikationen. Sie ist gezwungen, ihr Land zu verlassen und kommt nach Deutschland. Dort scheitert die Aufnahme des erlernten Berufs daran, dass sie nicht weiß, wie man den Beruf in der neuen Sprache bezeichnet und wie das erforderliche dazugehörige Anerkennungsprozedere funktioniert. Die daraus resultierenden Folgen um Frustration, Unzufriedenheit und nicht gewährleistete Wertschätzung der eigenen Person wollen wir uns gar nicht vorstellen. Um solchen Problemen vorzubeugen, müssen wir als „Aufnahmegesellschaft“ den MigrantInnen unsere Systeme erklären und verständlich machen. Diesbezüglich wirft Schmidt ein, dass das Ganze nicht ohne menschliche Zuwendung funktionieren könne. Menschliche Zuwendung meint in diesem Zusammenhang Zuwendung von neutralen Zivilisten, Ehrenamtlichen und engagierten HelferInnen. Als „Systemvertreter“ oder als „jemand mit irgendeinem Amt“ könne man das nicht schaffen, da die Begegnung eine ganz andere sei. Schmidt formuliert sehr treffend, ihn und MigrantInnen trenne manchmal ein Schreibtisch. Dieser Schreibtisch, stellvertretend für Behörden, Ämter und staatliche Institutionen, ist eine Barriere, die nur durch ehrenamtliches Engagement überwunden werden kann. Hier kommt das Gewicht und die gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit des Ehrenamts zur Geltung. Ohne ungezwungene Begegnung, von Mensch zu Mensch, kann gelungene Integration nicht funktionieren. In Bezug auf das größere Ganze findet Schmidt deutliche Worte, welche Konsequenzen für uns alle, als Gesellschaft gezogen werden müssen: „Wir müssen als Gesellschaft aushalten lernen, dass uns die Systemfrage gestellt wird, dass wir uns erklären sollen, und als Aufnahmegesellschaft sowas wie echten Dialog ermöglichen. Ziel wäre, dass wir dann für die Gegenseite nicht mehr Aufnahmegesellschaft sind, sondern alle Teil derselben Gesellschaft sind.“ Daraus kann man eine Verpflichtung für uns alle schlussfolgern, die an sich nicht neu ist, aber dennoch nicht oft genug wiederholt werden kann. Wir müssen alle lernen, “unser” System zu hinterfragen und offen auf andere Menschen zugehen, um ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Das gilt selbstverständlich auch für den privaten Bereich, besonders jedoch für ehrenamtliches Engagement. Nur so kann eine Spaltung der Gesellschaft verhindert und stattdessen eine vielfältige Gesellschaft geschaffen werden, die nicht aus Migranten und Nicht-Migranten, sondern aus Menschen besteht. Wie bereits erwähnt, steht Passau ziemlich gut da, was die ehrenamtliche Struktur angeht. Doch das kann noch lange nicht als ausreichend angesehen werden. In diesem Zuge möchten wir jede und jeden dazu einladen, sich über die vielfältigen Möglichkeiten zu informieren, wo und wie man sich in Passau engagieren kann. Als Orientierung dafür, möchten wir abschließend noch einige Hochschulgruppen, Vereine und Organisationen auflisten, die einen unendlich wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft leisten und die wir nur von Herzen empfehlen können.


Hochschulgruppen und Vereine, bei denen sich Vorbeischauen lohnt:


● Chancen gestalten - Changes Passau e. V. (1:1 Mentoring, Politische Bildung, Events
und mehr)
Link: https://chancengestalten-passau.org/startseite.html
● Evangelische Studierendengemeinde Passau (Deutschkurse, Sprachpatenschaft
Come together for German und mehr)
Link: https://esg-passau.de/deutschprojekt/
● Aktion Seebrücke Passau (setzt sich gegen humanitäre Katastrophen auf dem
Mittelmeer und europäische Abschottungspolitik)
Link: https://www.facebook.com/seebrueckepassau
● Gemeinsam Lernen und Leben in Europa e. V. (bieten zahlreiche Kurse/Workshops
an für Geflüchtete und Interessierte wie Spieleabende, Café Deutsch, Kochkurse,
Nähtreff für Frauen,...)
Link: https://gemeinsam-in-europa.de/
● Refugee Program (Organisation von Lern-Tandems und -Gruppen mit deutschen und
internationalen Studierenden der Uni Passau)
Link: https://www.uni-passau.de/refugeeprogramme

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